Lieber James Lissauer,
ich komme aus einem Dorf, das nicht weit entfernt von Lübeck ist, deinem früheren Wohnort. Ich bin Schülerin des Ostsee-Gymnasiums Timmendorfer Strand. Meine Schule bietet für die elften Klassen die Teilnahme an einer Gedenkstättenfahrt an, deshalb schreibe ich dir. Ich werde mit auf diese Gedenkstättenfahrt fahren und mich mit deiner, aber auch mit der Geschichte von vielen anderen Opfern des Holocausts beschäftigen.
Wenn ich jetzt vorher daran denke, an dem Ort zu stehen, an welchem so vielen Menschen so viel Leid zugefügt wurde, fühle ich mich sehr leer. Ich weiß noch gar nicht, wie ich mit diesem Gedanken umgehen soll. Diese Fahrt bedeutet nicht nur, dass ich mich mit den geschichtlichen Aspekten der Zeit beschäftigen werde, sondern auch vor allem mit dem Leid und dem Schmerz der vielen Opfer.
Dass ich und viele andere an dieser Fahrt teilnehmen dürfen, bedeutet mir sehr viel. Und ich hoffe, dass wir damit ein Andenken an die Opfer des Holocausts schaffen können. Durch die eigene Teilnahme möchte ich sicherstellen, dass ich mich mit dem Thema beschäftige, besser auskenne und in der Zukunft auch andere Schülerinnen und Schüler über das Thema aufklären kann.
Obwohl du in den wirren und schrecklichen Zeiten des Holocausts auf tragische Weise dein Leben verloren hast, schreibe ich dies, um an dich zu denken, zu erinnern und dafür zu sorgen, dass dein Leben und deine Geschichte niemals in Vergessenheit geraten werden.
Ich versuche mir vorzustellen, wie die Zeit für dich gewesen sein muss.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du gelebt hast, wie du in Lübeck zur Schule gegangen bist.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du mit deinen Geschwistern in deiner Kindheit draußen auf der Straße gespielt hast.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du mit deiner Familie am Tisch gesessen und zu Abend gegessen hast.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du angefangen hast, in deinem Beruf zu arbeiten.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du eine zukünftige Ehefrau kennengelernt hast.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du mit deiner Ehefrau in ein gemeinsames Zuhause gezogen bist.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du dich gefürchtet hast, als die schreckliche Zeit des Nationalsozialismus angefangen hat.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du dich gefühlt haben musst, als deine Religion plötzlich eine Gefahr für deine Ehefrau darstellte.
Ich versuche mir vorzustellen, wie traurig du warst als du wegen deiner Religion deinen Beruf aufgeben musstest.
Ich versuche mir vorzustellen, wie verzweifelt du auf deiner Flucht vor dem Grauen warst.
Ich versuche mir vorzustellen, wie verängstigt du bei deiner Internierung warst.
Ich versuche mir vorzustellen, wie du dich bei der Deportierung gefühlt hast.
Ich versuche mir so vieles aus deinem Leben auszumalen, doch ich kann mir nichts von dem auch nur ansatzweise vorstellen. Ich habe mich mit deiner Geschichte beschäftigt und trotzdem fällt es mir schwer zu realisieren, was du alles durchmachen musstest.
Deine Geschichte begann am 8. Februar 1885 als du in Hamburg geboren wurdest. Ephraim Joseph Lissauer und Helene Lissauer waren deine Eltern. Deine Familie wohnte schon seit vielen Jahren in Lübeck, erst in Moisling und dann in der Schildstraße 5 in Lübeck, wo du mit deinen Großeltern, Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten lebtest. Deine Großeltern hatten im unteren Teil des Hauses ein Geschäft, während ihr im oberen Teil des Hauses gelebt habt. Die jüdische Religion war auch in deiner Kindheit schon ein wichtiger Teil der Erziehung. Es ist anzunehmen, dass du in der israelischen Schule der Gemeinde zur Schule gegangen bist und, dass dein Religionsunterricht in der neuen Synagoge stattgefunden hat.
Außerhalb der Schule hast du viel Zeit mit deinen vier älteren Brüdern Meno, Hermann, Ernst und Friedman, deiner großen Schwester Betty und deiner kleinen Schwester Irma verbracht. Nach der Schule hast du deinen Beruf als Schlachtergeselle angefangen auszuüben. Während dessen hat deine Schwester Betty den Holländer Simon Emmering geheiratet. Zu dieser Zeit lerntest du deine Frau Dora Wisser kennen. Ihr habt geheiratet und seid in ein gemeinsames Zuhause gezogen.
Bis zu diesem Punkt hattest du ein sehr schönes Leben. Alles scheint aus meinen Augen so perfekt. Du hattest einen Beruf, der dich erfüllte, eine wundervolle Familie und du hattest die Liebe deines Lebens gefunden. Du hattest Hoffnung, Spaß und Pläne. Umso schwerer fällt es mir, den Rest deines Lebens zu betrachten. An diesem Zeitpunkt konnte noch keiner ahnen, welche grausamen Zeiten auf dich, deine Familie und auf so viele andere zukommen würden.
Kurz nachdem du angefangen hattest zu arbeiten, kamen die Nazis an die Macht und du warst gezwungen aufgrund deiner jüdischen Religion deinen Beruf zu wechseln, erst zum Viehtransporteur und dann zum Transporteur. Zu diesem Zeitpunkt wurde dann klar, dass deine Religion zur Gefahr für dich und deine evangelische Frau wurde. Durch deine jüdische Religion wurde nun auch sie zur Zielgruppe der furchtbaren Nationalsozialisten. Da deine Schwester Betty einen Holländer geheiratet hatte, habt ihr die Flucht nach Holland angetreten und hofftet, in den Niederladen ein friedlicheres und sicheres Leben führen zu können. Dem war leider nicht so. Du wurdest nur ein paar Jahre später interniert und nach Westerbork gebracht.
Ich mag mir gar nicht denken, wie du dich zu dieser Zeit gefühlt haben musst. In so kurzer Zeit hat sich ein Leben von einem schönen hoffnungsvollen Leben in einen aussichtslosen Albtraum verwandelt. Du wurdest von deiner Familie und deiner Frau getrennt. Du hattest sicher furchtbare Angst.
Im Jahre 1944 wurdest du aus Westerbork nach Theresienstadt deportiert. Ab hier geht deine Geschichte sehr schnell. Du warst nicht lange in Theresienstadt und wurdest noch im gleichen Jahr nach Auschwitz deportiert. Am 7.7.1944 wurdest Du in Auschwitz ermordet. Dein Leben war zu Ende.
Woran hast du in all der Zeit gedacht? Hattest du Hoffnung? Wusstest du, wie es deiner Familie geht? Ich habe so viele Fragen an diese Zeit damals und an deine Geschichte. Doch leider kann sie mir niemand beantworten.
Dir und so vielen anderen wurde die Familie und das Zuhause, aber auch die Hoffnung und die Träume weggenommen. So viele unschuldige Menschen wurden verfolgt, gefoltert und getötet. Jeder von ihnen hatte eine individuelle Geschichte. Jeder von Ihnen hatte Ziele und Träume. Den meisten wurde dies genommen.
James Lissauer, dir wurde auf so grausame Weise das Recht auf dein Leben genommen, und das kann keiner auf irgendeine Weise wiedergutmachen.
Doch trotzdem möchte ich dir sagen, dass deine Geschichte mich berührt und ich deshalb dafür sorgen möchte, dass du, deine Familie und deine Geschichte nicht in Vergessenheit geratet.
Jetzt, nach der Gedenkstättenfahrt, kann ich sagen, dass dein Schicksal mich die ganze Fahrt über aber auch jetzt noch begleitet. Meine eindrucksvollste Erinnerung an die Fahrt ist der Satz eines Transporteurs in Auschwitz. Er kümmerte sich darum, die Inhaftierten von der Rampe zu den Gaskammern zu bringen. Er sagte: „Ich habe immer versucht, nicht richtig hinzuschauen.“
Dieser Satz begleitet mich Tag für Tag. Ich frage mich, wie dein Leben ausgesehen hätte, wenn mehr Menschen hingesehen hätten.
Ich möchte nicht wegschauen, bei Antisemitismus, Rassismus, Mobbing und vielem mehr. Ich möchte hinschauen und etwas tun. Und ich werde für dich und für die anderen vielen Opfer dafür sorgen, dass mehr Leute hinschauen.
Mit tiefstem Respekt und Gedenken an dich,
Ida, Q1
Zurück zur Übersicht - „Ich habe lieber weggeschaut“ - Gedenkstättenfahrt 7. - 14. Oktober 2023