Lieber Aron Adolf Emmering,
bereits jetzt weiß ich nicht so recht, was ich schreiben soll. Was schreibt man in einem Brief an eine Person, die brutal ermordet wurde? Die zu einer von den Nazis systematisch verfolgten und verhassten Gruppe gehörte, die in einem nur dafür errichteten Vernichtungslager umgebracht wurde?
Denn genau so muss man diese Ermordungen beschreiben: systematisch. Ausgeführt von einem ganzen Staat, getragen von einer Vielzahl der Bevölkerung. Und die Bevölkerung wusste, dass etwas mit den Juden geschah. Die Menschen wussten vielleicht nicht, dass Juden in Konzentrations- und Vernichtungslagern brutal umgebracht wurden. Aber sie haben mitbekommen, dass eben diese Juden deportiert wurden - in Konzentrationslager - und auch die waren nicht unbekannt.
Wusstest du all das? Wusstest du von den Konzentrationslagern und den Massenermordungen?
Du hast Deutschland 1935 mit deiner Mutter und deinem Bruder verlassen und bist nach Holland geflohen. War die Existenz von KZs dort bekannt?
War es trotz der Anfeindungen und Gefahren schwer, Lübeck zu verlassen? Die Stadt, die für fast 20 Jahre deine Heimat, dein Zuhause, war?
Heute sind vor deinem Haus in der Schildstraße 5 Stolpersteine verlegt, die an die Verfolgung und Ermordung Deiner Familie erinnern sollen. Ach so, ein Stolperstein ist eine kleine, im Boden verlegte Gedenktafel. Auf ihr stehen Name, Geburtsdatum und auch Todesort und -datum. Sie sind nur etwa 10cm mal 10cm groß und glänzen golden, da sie aus Messing sind.
Das hier steht auf deinem Stolperstein:
Auschwitz. 1943 bist du nach Auschwitz gekommen. Nein, du bist dort hingebracht worden – wie ein Stück Vieh in einem Güterwaggon mit der Absicht, dich zu töten.
Wusstest du das? Was hast du gedacht, als du Auschwitz gesehen hast? War es sehr schlimm, von deiner Familie getrennt zu werden, schon vor Auschwitz?
All dies sind Dinge, die ich mir nicht vorstellen kann.
Und du kannst mir keine Antwort geben. Vielleicht würdest du mir keine Antwort geben wollen.
Vielleicht sind dir so schlimme Dinge widerfahren, die kein Mensch verarbeiten kann.
Ein Mensch.
Denn genau das warst du. Ein Mensch.
Homo sapiens.
Du warst einer von uns Menschen.
Du sahst nicht anders aus, nur weil du Jude warst.
Du hattest kein „jüdisches Blut“, deine Religion war nicht in deinem Blut, so etwas kann gar nicht sein.
Du hast keine Brunnen vergiftet.
Du warst an keiner Weltverschwörung beteiligt.
All dies sind Dinge, die über Juden gesagt wurden. Gesagt werden.
Aber warum?
Warum schiebt man euch Juden die Schuld für solche Sachen in die Schuhe?
Warum sagt man, dass ihr „anders“ ausseht, nur weil ihr Juden seid, obwohl die Religion nichts mit den Genen und dem Aussehen zu tun hat?
Warum sagt man, ihr seid es nicht wert zu leben, nur weil ihr Juden seid?
Ich weiß es nicht, du weißt es nicht, keiner weiß es so genau.
Und dennoch ist es so unfair, so ungerecht und vor allem unverständlich.
So etwas darf sich nicht wiederholen.
Und nun stehe ich hier, fast genau 80 Jahre nach deiner Deportation nach Auschwitz.
An dem Ort, wo du deinen Tod gefunden hast, wo du ermordet wurdest.
Lieber Aron, du warst gerade einmal 38 Jahre alt, als dir dein Leben genommen wurde. Viel zu früh. Ich hoffe, du hast dort, wo Du jetzt bist, Frieden gefunden, ich habe noch lange keinen Frieden gefunden – wie konnte der Holocaust geschehen?
Du, deine Familie und all die anderen Millionen Menschen, deren Leben genommen wurde:
Ihr seid nicht vergessen.
Wir werden euch nicht vergessen.
Ich werde euch nicht vergessen.
Ruhe in Frieden, Adolf Aron Emmering
Jan Philipp, Q1
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